Mittwoch, August 03, 2005

ELEMENTARE TYPOGRAPHIE

Iwan Tschichold 1925

1. Die neue Typographie ist zweckbetont.
2. Zweck jeder Typographie ist Mitteilung (deren Mittel sie darstellt). Die Mitteilung muss in kürzester, einfachster, eindringlichster Form erscheinen.
3. Um Typographie sozialen Zwecken dienstbar zu machen, bedarf es der inneren (den Inhalt anordnenden) und äußeren (die Mttel der Typographie in Beziehung zueinander setzenden) Organisation des verwendeten Materials.
4. Innere Organisation ist Beschränkung auf die elementaren Mittel der Typographie: Schrift, Zahlen, Zeichen. Linien des Setzkastens und der Setzmaschine.
Zu den elementaren Mitteln neuer Typographie gehört in der heutigen, auf Optik eingestellten Welt auch das exakte Bild: die Photographie.
Elementare Schriftform ist die Groteskschrift aller Variationen: mager – halbfett – fett – schmal bis breit.
Schriften, die bestimmten Stilarten angehören oder beschränkt-nationalen Charakter tragen (Gotisch, Fraktur, Kirchenslavisch) sind nicht elementar gestaltet und beschränken zum Teil die internationale Verständigungsmöglichkeit. Die Mediäval-Antiqua ist die der Mehrzahl der heute Lebenden geläufigste Form der Druckschrift. Im (fortlaufenden) Werksatz besitzt sie heute noch, ohne eigentlich elementar gestaltet zu sein, vor vielen Groteskschriften den Vorzug besserer Lesbarkeit.
Solange noch keine, auch im Werksatz gut lesbare elementare Form geschaffen ist, ist zweckmässig eine unpersönliche, sachliche, möglichst wenig aufdringliche Form der Mediäval-Antiqua (also eine solche, in der ein zeitlicher oder persönlicher Charakter möglichst wenig zum Ausdruck kommt) der Grotesk vorzuziehen.
Eine ausserordentliche Ersparnis würde durch die ausschliessliche Verwendung des kleinen Alphabets unter Ausschaltung aller Grossbuchstaben erreicht, eine Schreibweise, die von allen Neuerern der Schrift als unsre Zukunftsschrift empfohlen wird. durch kleinschreibung verliert unsre schrift nichts, wird aber leichter lesbar, leichter lernbar, wesentlich wirtschaftlicher, warum für einen laut, z. b. a zwei zeichen A und a? ein laut ein zeichen. warum zwei alfabete für ein wort, warum die doppelte menge zeichen, wenn die hälfte dasselbe erreicht?
Die logische Gliederung des Druckwerks wird durch Anwendung stark unterschiedlicher Grade und Formen ohne Rücksicht auf die bisherigen ästhetischen Gesichtspunkte optisch wahrnehmbar gestaltet.
Auch die unbedruckten Teile des Papiers sind ebenso wie die gedruckten Formen Mittel der Gestaltung.
5. Äussere Organisation ist die Gestaltung stärkster Gegensätze (Simultanität) durch Anwendung gegensätzlicher Formen, Grade und Stärken (die im Werte ihrer Inhalte begründet sein müssen) und die Schaffung der Beziehung dieser positiven (farbigen) Formwerte zu den negativen (weissen) Formwerten des unbedruckten Papiers.
6. Elementare typographische Gestaltung ist die Schaffung der logischen und optischen Beziehung der durch die Aufgabe gegebenen Buchstaben, Wörter, Satzteile.
7. um die Eindringlichkeit, das Sensationelle neuer Typographie zu steigern, können, zugleich als Mittel innerer Organisation, auch vertikale und schräge Zeilenrichtungen angewendet werden.
8. Elementare Gestaltung schliesst die Anwendung jedes Ornaments (auch der ornamentalen Linie, z.B. der fettfeinen) aus. Die Anwendung von Linien und an sich elementaren Formen (Quadraten, Kreisen, Dreiecken) muss zwingend in der Gesamtkonstruktion begründet sein.
Die dekorativ-kunstgewerblich-spekulative Verwendung an sich elementarer Formen ist nicht gleichbedeutend mit elementarer Gestaltung.
9. Die Anordnung neuer Typographie sollten in Zukunft die normierten (DIN-)Papierformate des Normenausschusses der Deutschen Industrie (NDI) zugrunde gelegt werden, die allein eine alle typographischen Gestaltungen umfassende Organisation des Druckwesens ermöglichen.
Insbesondere sollte das Format DIN A 4 (210:297 mm) allen Geschäfts- und andern Briefen zugrunde gelegt werden.
10. Elementare Gestaltung ist auch in der Typographie nie absolut oder endgültig, da sich der Begriff elementarer gestaltung mit der Wandlung der Elemente (durch Erfindungen, die neue Elemente typographischer Gestaltung schaffen – wie z. B. die Photographie) notwendig ebenfalls ständig wandelt.